Der Alleskönner für die feine Küche
Das Comeback des Noilly Prat: Fast war der Vermouth schon in Vergessenheit geraten. Bis Köche entdeckten, dass sich damit alles aufnorden lässt, was Raffinesse zeigen soll.
Von Pascal Morché
Historisch gesehen haftet Vermouth wirklich kein gutes Image an. Sein besonders süßer Wermut-Bruder, der Absinth, hat auf Künstler wie Paul Gauguin, Henri Toulouse-Lautrec, Oscar Wilde oder Charles Baudelaire nicht nur inspirierend, sondern auch delirierend gewirkt. Opfer übermäßigen Wermut-Genusses wurden von Edgar Degas gemalt und hängen nun als „L’absinthe“ im Pariser Musée d’Orsay. Vermouth war zunächst nur der Wein der Müßiggänger und Halbweltler, also jener Menschen, die zwar trinken wollten wie die feinen Leute, bei denen es dann aber doch nur zu einem gepanschten, mit Kräutern und Zucker versetzten Wein für arme Leute reichte. Inzwischen hat sich das geändert – und zwar gründlich.
Pur wird ein guter, trockener Vermouth, also ein Martini, Cinzano oder Noilly Prat, nur ausnahmsweise getrunken. Meistens dienen diese Wein-Aperitifs heute als wichtige Zutat für Cocktails oder Longdrinks wie Astoria oder Manhattan – besonders aber der Noilly Prat ist begehrter Bestandteil der gehobenen Küche geworden. So gibt es nach Meinung vieler Gourmets keine gute Bouillabaisse ohne den berühmten, aus Südfrankreich stammenden Vermouth. Wie kaum einer seiner Kollegen aus Italien trägt er das Aroma südlicher Kräuter und Pflanzen in sich. Er rundet einen Fisch- oder Geflügelfond ab, würzt mit seinem facettenreichen Geschmack Suppen, Saucen und Desserts und verleiht Meeresfrüchten eine feinwürzige Note. Ein Grund dafür, dass wahre Feinschmecker ihre Austern nicht mit dem schnöden, schnell bitteren Saft der Zitrone beträufeln, sondern lieber mit einigen Tropfen Noilly Prat. Mit diesem Südfranzosen lässt sich das feine Aroma von Pilzen unterstreichen oder aus einer schlichten Gemüsesuppe eine nuancenreiche Consommé zaubern. Auch Desserts mit Erdbeeren, Pfirsichen oder Zitrusfrüchten lockt Noilly Prat gekonnt aus der Reserve. Belege dafür gibt es genug von jenen Spitzenköchen, die beim Kochen nur zu gerne zur Noilly-Prat-Flasche greifen.
Einer der treuesten Anwender von Noilly Prat ist Dieter Müller. Der langjährige Dreisternekoch im Schlosshotel Lerbach und heutige Patron der Kochschule des Schlosshotels in Bergisch Gladbach sagt über seine Kochphilosophie: „Ich liebe das Spiel mit Aromen, und da gehört meine Liebe den Saucen. Sie sind die Visitenkarte eines jeden Kochs und geben dem Gericht seinen Charakter.“
Gerade bei der Komposition seiner Saucen kommt der südfranzösische Weißweinvermouth zum Zuge. Damit sich das Aroma in seiner ganzen Vielfalt präsentieren kann, verrät Dieter Müller einen Trick: „Noilly Prat immer gehörig reduzieren, also 300 Milliliter so lange im Topf köcheln lassen, bis nur noch fünfzig Milliliter übrigbleiben, das ist die beste Grundlage.“ Dabei dürfe die Hitze nicht zu hoch gewählt werden, und die Flüssigkeit müsse stets unterhalb des Siedepunkts simmern, bis die gewünschte Konsistenz erreicht sei. Einen Extra-Kick Geschmack erhalten Saucen auch, wenn der Bratensatz mit Noilly Prat abgelöscht wird. Ein Fischfilet lässt sich unkompliziert veredeln, wenn kurz vor dem Servieren ein paar Tropfen Noilly Prat darauf gegeben werden. Kurzum, die Variationsmöglichkeiten sind so vielseitig wie die Kreativität des Kochs.
Deshalb gehört dieser Vermouth selbst für die jüngeren Chefs inzwischen zu den täglich verwendeten Zutaten. Wenn beispielsweise der Berliner Avantgardist Tim Raue mit höchster Geschmacksintensität auftrumpft, ist häufig Noilly Prat im Spiel. „In meiner Küche steht Aromatik im Mittelpunkt“, sagt der Sternekoch, den der Michelin für sein soeben eröffnetes Berliner Restaurant „MA Tim Raue“ sofort mit einem Stern geehrt hat. Und Zweisternekoch Hans Stefan Steinheuer pflichtet dem Kollegen bei: „Für einen Koch ist die Aromenvielfalt und Fülle an Einsatzmöglichkeiten von Noilly Prat eine Herausforderung.“ Der Vermouth zähle zu seinen Lieblingsprodukten und diene ihm gerne zur „Perfektionierung tiefgründiger Saucen“. In Steinheuers Restaurant in Bad Neuenahr-Heppingen wird am guten Tropfen nicht gespart. „Wenn Noilly Prat in einem Gericht spürbar zu schmecken sein soll, so reicht es nicht, nur einen Schuss in die Sauce zu geben. Bei einem dreigängigen Menü für acht Personen kann durchaus eine ganze Flasche verarbeitet werden“, sagt Steinheuer weniger tiefgründig.
Was ist dran an dieser Wunderingredienz der Gourmet-Küche – oder besser: Was genau ist drin in der grünen, leicht oval auslaufenden Vermouthflasche, deren Etikett die Namen ihrer Gründerväter Joseph Noilly und Claudius Prat trägt? Die Antwort lautet: zwei feinfruchtige Weißweine, jede Menge Kräuter, darunter Koriander, Tausendgüldenkraut und Muskat, viel Sonne, handwerkliches Können und eine gehörige Portion Traditionsbewusstsein. Verständlich: 1813 entwickelt Joseph Noilly den ersten trockenen Vermouth der Welt, den sein Sohn Louis und dessen deutscher Schwiegersohn Claudius Prat dreißig Jahre später unter dem Namen Noilly Prat vermarkten. Bis heute sind die Produktionsstätten und die Lagerhäuser in dem südfranzösischen Hafenstädtchen Marseillan, wo pro Jahr drei Millionen Flaschen Noilly Prat in Regie von Bacardi hergestellt werden, dieselben geblieben.
Geblieben ist auch die aufwendige Produktion: Viermal wird der Wein aus den beiden regionalen Rebsorten Picpoul und Clairette umgefüllt, bevor er nach zwei Jahren Marseillan als französische Vermouthspezialität verlässt. Zunächst reift er acht Monate lang in kühlen Kellern und Holzfässern aus kanadischer Eiche. Danach aber wird er auf dem Hof ein Jahr lang in 2000 kleinen Eichenfässern unter freiem Himmel den Launen des südfranzösischen Klimas ausgesetzt. Die Sommer sind heiß, die Winter kalt, es regnet selten, aber heftig. Das ist der ungewöhnliche, aber eben Noilly-Prat-typische Reifeprozess, durch den der Wein schneller oxidiert. War er anfangs noch klar und fruchtig, so wird er unter freiem Himmel bernsteinfarben mit einem kräftigen Bukett und körperreichem Geschmack. Nach diesem Jahr der Witterungsumschwünge fügt der Kellermeister dem Wein ein „Mistelle“ genanntes Gemisch aus Traubenmost und Alkohol hinzu und rundet den Geschmack des Wermutweins mit Destillaten aus Himbeeren und Zitronen ab. Der darauf folgende Herstellungsschritt aber bleibt bis heute Firmengeheimnis: Mehr als zwanzig sonnengetrocknete Kräuter und Gewürze aus aller Welt werden nach überliefertem Rezept gemischt, sackweise portioniert und dem jetzt in riesigen 2000-Liter-Fässern lagernden Noilly Prat beigegeben.
Diese Gewürzmischung wird drei Wochen lang jeden Tag mit einem langen Eisenstab im Wein verrührt. Schließlich wird dieser gefiltert, ruht erneut sechs Wochen, um endlich als fertiger und original französischer Vermouth das Unternehmen zu verlassen: ein Exportartikel für mehr als fünfzig Länder der Welt.
Dort erfreut Noilly Prat nicht nur Barkeeper und Sterneköche, sondern inzwischen vor allem auch jene vielen Hobby- und Alltagsköche, die einem Steak eine kleine Vermouth-Dusche gönnen, bevor sie es aus der Pfanne holen, oder die schnell Marinaden und Dips für Gemüse oder Salate zubereiten: einfach Noilly Prat zusammen mit frischen Kräutern wie Basilikum, Schnittlauch, Petersilie oder Kresse zu einer leichten Vinaigrette schlagen oder mit Sahne oder Crème double zu einem würzigen Dip rühren. Es gibt tatsächlich kaum etwas in der täglichen Kochkunst, was sich mittels Noilly Prat nicht noch ein ganz klein wenig verfeinern ließe. Denn, wie sagt auch Meisterkoch Dieter Müller: „Noilly Prat ist ein Alleskönner.“
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.01.2009, Nr. 1 / Seite 44